Validation und die rosa Kaninchen

Die Herausforderung im Umgang mit dementen Menschen ist auch,

dass man eine „fremde Welt“ betritt und sich darin oft ebenso unsicher fühlen kann, wie die Demenzkranken in unserer „normalen Welt“.

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Eine kleine Geschichte aus dem Alltagdie mir gezeigt hat, dass nicht alles so einfach ist, wie es sich im ersten Moment darstellt.

Ort: Rehaklinik neurologische Station.
Akteure: ältere Patientin, Krankenschwester und ein rosa Kaninchen
Erlebnis: Eine lustige und ernste Erfahrung, in der die Rollen unvermittelt vertauscht wurden. Am Schluss war das rosa Kaninchen nämlich ganz allein mein Problem.

Bevor ich jedoch meine „Rosa-Kaninichen-Geschichte“ erzähle, möchte ich ganz kurz zusammenfassen, was Validation ist – zumindest ein paar Aspekte davon. Einige Grundlagen der Validation (nach Naomi Feil) lauten im Pflegewiki wie folgt:

  1. der demente Mensch wird so akzeptiert wie er ist
  2. der Rückzug in die Vergangenheit wird respektiert
  3. seine Verhaltensweisen werden nicht verkindlicht und es wird nicht an ihm herumerzogen
  4. er wird nicht korrigiert („Ihre Mutter ist doch schon tot“)
  5. er wird nicht abgelenkt („Nun gehen wir erst einmal einen Kaffee trinken.“)
  6. seine Gefühle werden nicht heruntergespielt („Wer wird denn bei solch einem Wetter traurig sein“)
  7. er wird nicht getadelt („Das ist aber gar nicht schön, dass sie so böse sind.“)
  8. es wird nicht nachgebohrt („Jetzt denken sie doch mal nach – wie war das genau“)
  9. man muss sich auf den dementen Menschen einstellen und eigene Gefühle zurückstellen
  10. wichtig ist ein aufrichtiger, intimer Blickkontakt!
  11. es wird in einer deutlichen, tiefen und liebevollen Stimme gesprochen.
  12. es kann Körperkontakt hergestellt werden (Berührungen wecken Erinnerungen, außerdem werden sie als angenehm empfunden)->in dem 1.Stadium was mangelhafte/unglückliche Orientierung genannt wird, lehnen die Personen jegliche Intimität und Körperkontakt ab
  13. die Kernaussage eines Gespräches wird wiederholt und die gleichen Schlüsselwörter benutzt
  14. Fragen zur Vergangenheit und dem hier und jetzt werden gestellt
  15. es wird dem dementen Menschen Zeit gegeben, um sich auszudrücken, was in ihm vorgeht
  16. beim SPIEGELN wird auf die Körpersprache des alten Menschen geachtet, dies sollte jedoch nicht mit dem sogenannten „nachäffen“ verwechselt werden
  17. es wird dieselbe Körperhaltung oder Körperspannung angenommen
  18. seine Bewegungen werden nicht nachgeäfft, der Gespiegelte fühlt sich sonst verspottet
  19. respektvolles Spiegeln bedeutet: Den Anderen ernst nehmen, verstehen und bestätigen

Soweit – so gut. Nun meine Geschichte dazu. 
Mit einem freundlichen „Guten Morgen Frau …“ betrat ich das Patientenzimmer. Die ältere Dame darin begrüßte mich ziemlich aufgeregt. „Wer kümmert sich eigentlich um die rosa Kaninchen?“ kam die vorwurfsvolle Frage statt der erwarteten Erwiderung meines Morgengrußes. Gestikulierend und sichtlich besorgt deutete sie auf den Balkon und wiederholte, dass sie unbedingt wissen müsse, wer „um Himmels Willen“ die rosa Kaninchen dort draußen eigentlich füttern würde. „Man kann die armen Tiere da draußen doch nicht einfach verhungern lassen!“ meinte sie entrüstet. Sie war wirklich verzweifelt und man sah ihr an, dass sie an nichts anderes mehr denken konnte, als an diese armen, hungrigen, rosa Kaninchen.

1-3. Akzeptanz und Repekt. Ich akzeptierte sie also, so wie sie gerade war: aufgebracht, besorgt, fast zornig, ungeduldig, … was auch immer in der Vergangenheit zu einer Vorliebe für rosa Kaninchen beitrug und ohne das ganze kindlich und mit Gezerre zu beantworten. Das war im Grunde noch ganz leicht.
4. Kein Widerspruch und keine Korrektur. Auch nicht bei rosa Kaninchen auf dem Balkon mit ihren Problemen.
5. Keine Ablenkung / Auslenkung. Die Morgenpflege als Ablenkung – das wäre sehr gut gewesen, aber leider in dieser Aufregung um die rosa Kaninschen gar nicht möglich und vorerst verschoben, bis das Kaninchenproblem behoben wäre.
6. Keine Beschwichtigungsversuche. Hungrige Kaninchen und all die Gefühle von Sorge und Angst um sie … versuchte ich ernst zu nehmen und nichts zu sagen, was die alte Dame nur noch mehr aufregen würde, wenn sie sich nicht verstanden fühlen sollte.
7. Kein Tadel. Löbliche, selbstlose Sorge um rosa Kaninchen sind schließlich kein Grund zu so etwas.
8. Kein Nachbohren. Ich wollte auch gar nicht wissen, woher die Kaninchen kamen und wie viele es waren oder ob die Dame sicher war, dass sie diese Kaninchen sah.
9. Professionelle Empathie. Ich versuchte also auf diese nette, um rosa Kaninchen besorgte Dame einzugehen und stellte mein unweigerliches Bedürfnis nach einem Lachen … wirklich sehr höflich und auch professionell zurück. Die eigenen Gefühle sind hier schließlich erst mal nicht so wichtig.
10. Blickkontakt. Unwillkürlich hatte ich natürlich nach draußen gesehen und auf dem Balkon nach etwas Rosa-farbenem gesucht, was vielleicht wie ein Kaninchen aussehen könnte – aber nun suchte ich selbstverständlich wieder den Blickkontakt zur Patientin, um mit ihr in Beziehung zu treten.
11. Verbale Kommunikation. Der nächste Punkt an diesem himmelblauen Morgen mit rosa Kaninchen wurde aber dann schon etwas schwieriger. Deutlich sprach ich schon, aber eine tiefe Stimme war wegen des unterdrückten Lachens nur schwer umsetzbar. Dennoch versuchte ich wirklich sehr verständnis- und liebevoll zu sein.
12. Berührung. Bewusst vermied ich es, sie zu berühren, weil ich wusste, das sie das nicht mochte.
13/14. Ich repetierte und evaluierte: Möglichst neutral (Den Grund der Aufregung formulierte ich bewusst nicht als Fragen sondern in Aussagesätzen und mit wenigen Worten fasste ich zusammen: „Die rosa Kaninchen auf dem Balkon – Man muss sich um sie kümmern. Man muss sie füttern. Kaninchen haben ja auch Hunger.  …“ 
15. Zeit geben. Die ältere Dame war für einen Moment damit beschäftigt, den Balkon zu beobachten und ich wartete – obwohl ich wusste, dass es dringend Zeit war, ins Bad zu gehen, denn schließlich warteten die anderen Patienten auch und alle mussten bis zu Beginn der Therapien fertig sein. …
16/17/18/19. Spiegeln/Körperhaltung/-spannung/Respekt. Das war nicht so schwer, denn ich war selbst angespannt, besorgt und wie sie deutete ich zum Balkon.

Kaninchen-(c)-michaela-vossDa stand ich also und wollte mich um die „rosa-Kaninchen-Problematik“ kümmern und möglichst professionell auf die Gefühle einer Patientin eingehen, die offensichtlich in einer mir unzugänglichen, sehr emotionalen Weltwahrnehmung steckte.

Dabei passierte es dann.

Ich wollte das Ganze irgendwie so bald wie möglich lösen und meinte nach einer kleinen Weile, in der die Dame unentwegt aus dem Balkonfenster starrte – dass sich der Hausmeister hier um die rosa Kaninchen fabelhaft kümmern würde.
Sie schreckte auf und sah mich plötzlich strafend an. „Aber Schwester! Was reden sie denn da für Unsinn? Rosa Kaninchen? Das gibt es doch gar nicht!“
Kopfschüttelnd stand sie auf und ging ins Bad.

(© M. Voss für Palliative-Praxis-Schulung.de)

 

Ein sehr netter Film dazu, den ich gefunden habe (sorry für die Werbung, die am Ende dazu gehört.)

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